IMPULS: PAUL STEFFEN
Zivilgesellschaft und Kirche in Zeiten der Flüchtlingsbewegung – Rückblick und Ausblick
Kirche hat mit ihren Ehrenamtlichenstrukturen und Erfahrungen im Sozialraum den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Status einer Backup-Struktur für Krisenzeiten...
Kirche hat mit ihren Ehrenamtlichenstrukturen und Erfahrungen im Sozialraum den ausgesprochenen oder unausgesprochenen Status einer Backup-Struktur für Krisenzeiten. Das war auch in Zeiten der von manchen sogenannten Flüchtlingskrise, in Deutschland um das Jahr 2015 bemerkbar. Wo der Staat nicht adäquat eingelassene Geflüchtete versorgte, taten dies Freiwillige aus verschiedenen gesellschaftlichen Netzwerken. Auch auf vielen Ebenen der Organisation Kirche wurden Ressourcen und Personal freigemacht, um für die neu ankommenden Menschen etwas zu tun. Das wurde anerkennend in anderen Unterstützerstrukturen und in der Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen.
Teilweise haben Pastor*innen und fast ganze Kirchengemeinden spontan gehandelt, wie etwa schon 2013 in der St. Pauli-Kirche in Hamburg, als etwa 80 Geflüchtete aus Lampedusa Schutz vor Kälte und dem Leben auf der Straße bekamen. Wie in anderen Kirchengemeinden später, folgten der Einladung an Gemeindeglieder und Nachbarn mitzuhelfen so viele, die sich engagieren wollten, dass bald eines offensichtlich wurde:
Nicht nur Ehrenamtliche der Kirchengemeinden kamen zahlreich, teils völlig überraschend folgten sehr viele Nachbarn und nach eigenem Bekunden ‚eigentlich völlig Kirchenfremde’ den Aufrufen. Die Kirche gab das Dach und bot meist begleitendes Hauptamt, mit dem zusammen sich Ehrenamt finden, koordinieren und ausagieren konnte. Oft arbeiteten kirchenferne und kirchliche Unterstützerstrukturen organisch neben- oder miteinander.
In der euphorischen Hochzeit schienen die engagierten Teile der Deutschen Bevölkerung geradezu einen Crashkurs für globales Lernen und interkulturellen Dialog zu durchlaufen. Es gab eine große Neugier auf die Geschichten der Neuankömmlinge. Nach einiger Zeit wurden aber auch Grenzen des Engagements erkennbar, zeigten sich viele Bedarfe nach Wissen um Flüchtlingsrechte und um Strukturhilfe beim Aufbau von Unterstützergruppen. Die ersten Freiwilligen überlasteten sich mit schierer Arbeit oder emotional mit persönlichen Schicksalen, die sich nicht einfach verkraften lassen. Hier kamen auf bewährte Strukturen neue Aufgabenfelder zu. Bevor Kirchenkreise, Nordkirchenebene und vereinzelt auch Gemeinden neue Flüchtlingsbeauftragte und Ehrenamtlichen-Koordinator*innen einstellten, sprangen ökumenische, diakonische und andere Arbeitsstellen ein, um Fortbildungen für Freiwillige zu organisieren und um Gruppen zu begleiten.
Wichtig war auf der hauptamtlichen Ebene auch die Wiederentdeckung der kirchlichen Flüchtlingsarbeit als vernetzte Arbeitsgemeinschaft der Fachreferate, die schon zuvor oder nun aktuell mit dem Thema zu tun hatten. Die AG kirchliche Flüchtlingsarbeit ist inzwischen mit der Caritas auch ökumenisch, mit Fluchtpunkt und den Migrationsberatungsstellen längst hochprofessionell aufgestellt und leistet mit seinen "Vernetzungstreffen" und der Netzplattform "www.hamburgasyl.de" für viele Freiwillige und Ehrenamtlichen-Organisationen, die sich informieren, vernetzen und einbringen wollen, unschätzbare Dienste.
Von der Ortskirche bis zu kirchlichen Orten haben Menschen und Gruppen – in stetig zunehmenden Kirchenasylen und im Sozialraum – auf mehreren Ebenen ein sozialeres Deutschland mitgestaltet. Interessant ist, ob und wer dies politisch verstanden hat und daraus auch Forderungen an Politik herleiten wollte. Gerade die Heterogenität der Freiwilligen Menschen und Hilfsstrukturen verstellte vielen Medienschaffenden und Mittuenden den Blick dafür, dass hier eine wirklich neue zivilgesellschaftliche Bewegung entstand, die sich aus vielen ehemals Engagierten und Nicht-Engagierten aktuell zusammenfügte.
Für die professionelle Beobachtung verständlich und folgerichtig konnte aber aus dem nicht vorhandenen Gruppenidentitätsgefühl auch keine umfassend organisierte und stringente Antwort auf die deprimierenden Angstparolen von Pegida bis AfD formuliert werden. Viele Ehrenamtliche verwahrten sich nicht nur gegenüber parteipolitischen Vereinnahmungsversuchen, sie wollten entschieden Dienst nur an und für Mitmenschen machen und nicht für oder gegen übergeordnete Ideen oder Ideologien. Nur vereinzelt haben sich auch politische Kampagnen-Plattformen herauskristallisiert wie zum Beispiel „Hamburg hat Platz“.
Dennoch und vielleicht auch deswegen ist die Zivilgesellschaft gestärkt aus dieser Phase herausgetreten, haben neue Freiwillige sich in dieser Rolle finden und ausprobieren können – haben verschiedene Player sich neu gegenseitig wahrnehmen können. Solche Erfahrungen gehen ins kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft über und können zukünftige Erfolge ermöglichen oder vereinfachen.
Paul Steffen, Engagementförderung im Evangelisch-Lutherischen Kirchenkreis Hamburg-West/Südholstein