WIR LEBEN DIE FÜLLE ‒ ALLGEMEINES PRIESTERTUM

Stephanie Schwenkenbecher, Dipl. Theologin und Prädikantin

Lächelnde Frau

Es gibt ein Thema in der Bibel und in der Geschichte der Kirche, das vor allem in besonders schwierigen Zeiten eine Rolle spielte. Ist es ein Thema für heute?

Verheißung in der Fremde
Das umgesiedelte Volk lebt unter Fremden. Es ist seiner Eigenmacht beraubt. Die „anderen“ haben eine andere Religion. An den Flüssen Babylons erinnern sie, die Israeliten, die alte Erzählung: wie sie einmal aus der Fremde ausgezogen sind, wie sie aus der Sklaverei in Ägypten ins gelobte Land kamen. Und sie sprechen sich zu, was Gott ihnen verheißen hat: Ein Königtum von Priestern sollen sie sein, erwählt, in der Beziehung zu ihm heilig und Gott unmittelbar. Denn so einzigartig ist das Gottesvolk. Es ist doppelt gewürdigt – gekrönt und gesalbt. Es trägt das Zepter und den Heiligenschein, es sitzt am Altar auf dem Thron, es trägt den Nerz über dem Talar … Was für eine Hoffnung für die Verschleppten, die Umgesiedelten, die Heimat-, Land- und Tempellosen.
 „Werdet ihr nun meiner Stimme gehorchen und meinen Bund halten, so sollt ihr mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein“ (Ex 19,5.6).

Trost in der Verfolgung
Die kleine, verstreute Religionsgemeinschaft ist dem Wohlwollen staatlicher Behörden ausgesetzt. Doch es sind vor allem ihre Nachbarn und Verwandte, die sich gegen sie stellen. Ihr veränderter, unangepasster Lebensstil befremdet ihre Mitmenschen. Wir befinden uns unter Christen in der Diaspora in Kleinasien, auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Das erste Jahrhundert nach Christus geht zu Ende. Womit trösten sie sich, in ihrem angefochtenen Leben und sozial nicht anerkannten Glauben? Der Briefschreiber des ersten Petrusbriefs versucht es so:
„Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht“ (1. Petrus 2,9).
Die Erfahrung, die sie machen, von einer neuen Identität in Christus, die lässt sich bei aller Verfolgung nicht anders als mit übergroßen Begriffen beschreiben. Es ist eine Gemeinschaft von Priestern entstanden – bildlich gesprochen. Ein Priester im Singular ist darin nicht mehr vorstellbar. Priester sind sie nur noch, wenn sie viele sind. Für den Einzelnen bedeutet das wiederum kein Amt, kein Handeln, sondern einen Status. Teil der königlichen Priesterschaft zu sein bedeutet, heilig zu sein, integer, ideal in Gottes Sinn, zugehörig zu Gott und zwar so, dass es keine anderen Vermittler mehr braucht.

Protest für das Evangelium
Pastoren kennen das Vaterunser nicht, mit dem Heil wird gehandelt wie mit Äpfeln, Gottesdienste werden nur um des Gottesdienstes willen gehalten, und wenn die Gemeinde doch mal dabei ist, versteht sie kein Wort, erachtet das Abendmahl als Hokuspokus. Die Sehnsucht nach einem gnädigen Gott ist groß, aber die Hölle droht jedem, der keinen Handel mit der anerkannten religiösen Institution Kirche eingehen kann oder will. In der geistlich verlotterten Situation seiner Kirche ruft Martin Luther 1520 die Geistlichkeit aller Christen in die Verantwortung, in seiner Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“:
„Denn alle Christen sind in Wahrheit geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied denn des Amtes halben allein […]. Das rührt alles daher, daß wir eine Taufe, ein Evangelium, einen Glauben haben und sind gleiche Christen […]. Demnach werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweihet.“

Das Allgemeine Priestertum heute
Wir steuern auf eine Situation zu, in der Christen nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung bilden. In den jüngeren Altersstufen ist das schon der Fall und in manchen Gegenden sind wir bereits Minderheit. Es kann sein, dass wir uns als Christen fremd fühlen werden in diesem Land, das für sich eine christlich geprägte Kultur reklamiert. Es kann sein, dass wir von Verwandten, Freunden, Nachbarn Gegenwind bekommen, ignoriert werden oder beschimpft, weil wir Christen sind und tatsächlich in der Kirche bleiben. Es kann sein, dass wir schon jetzt in Teilen Trost suchen und Zuspruch brauchen, weil wir unseren Freunden hinterherschauen, wie sie immer seltener und schließlich gar nicht mehr in die Gemeinde kommen, weil unsere Kinder kaum noch christliche Freunde haben und die Gemeinschaft der Gleichgesinnten schrumpft.

Ist es eine neue Zeit des Allgemeinen Priestertums?
Es kann sein, dass es nicht an den Theologen, den Pastorinnen, den Beauftragten dieser Kirche ist, diese Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte der Gemeinden, der Christen und Christinnen in den Gemeinden (und das schließt Theologen und Theologinnen immer mit ein). Es ist die Geschichte der einzelnen Menschen vor Ort, was es für sie heißt, mit Gott unmittelbar zu leben, keine gesonderten Geistlichen zu brauchen, um als Christen Gemeinschaft zu haben, sich gegenseitig das Evangelium zu erzählen und zu beten, ja nicht mal, um miteinander das Abendmahl zu feiern wie die ersten Christen. Wie sie sich dabei organisieren, was sie dabei von Kirche brauchen oder bekommen können, welcher Ordnung das folgt, werden wir vielleicht viel weiter denken können – oder müssen –, als wir es uns heute noch vorstellen.

Es gilt die Verheißung. Von wo auch immer wir aufbrechen, ob wir freiwillig gehen oder gehen müssen, ob wir noch zweifelnd vor dem Glauben stehen oder als Kirche fragend vor einem neuen Lebensabschnitt – es gilt die Verheißung: Ihr werdet mir ein Königtum von Priestern sein. Und wenn uns auf dem Weg das Gefühl überkommt, das gelobte Land könnte hinter uns liegen und vor uns nichts als Wüste, es gilt die Verheißung: Ihr werdet mir wie Könige und Priester sein.

Wir leben die Erfüllung. Wir tauchen mit der Taufe ein in eine neue Lebenswirklichkeit, für die gilt: Ihr seid die königliche Priesterschaft. Das ist so revolutionär, dass es plötzlich keine Priester mehr braucht, keine anderen geistlichen Größen als den Heiligen Geist in uns, dass es ein Geist ist, in dem wir vor Gott Gemeinschaft sind. Wir Getauften sind die königliche Priesterschaft. Das gilt für jede und jeden Einzelnen von uns und für niemanden im Besonderen.

Wir erinnern uns an den Protest. Wir folgen immer noch dem Streit des jungen Martin Luther. Und auch wir stehen ein für eine Kirche ohne falsche geistliche Eitelkeiten, für eine Kirche mit einer richtig verstandenen, lebensdienlichen Ordnung und Struktur, für eine Gemeinschaft der Glaubenden, die in der ihr nicht zu nehmenden Verantwortung ihre Gemeinschaft organisiert und gestaltet. Und wir erlauben uns, vorsichtig mit der polemischen Spitze umzugehen, die seit Luther im Allgemeinen Priestertum steckt. Wir sind respektvoll gegenüber denen, die Verantwortung übernehmen in unseren Kirchen, die in verschiedener Weise berufen und beauftragt sind von der Gemeinde.

Wir nehmen Verheißung und Erfüllung und Protest des Allgemeinen Priestertums mit auf einen Weg, den niemand vor uns gegangen ist und wir vertrauen darauf, dass wir ihn mit Gott gehen.

Bibeltext: Lutherübersetzung in der revidierten Fassung von 2017.
Lutherzitat: Ernst Kähler (Hrsg.), Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation. Von des christlichen Standes Besserung, Stuttgart 1962 (Nachdruck).

Stephanie Schwenkenbecher, Dipl. Theologin und Prädikantin in der Nordkirche