ALLES HAT SEINE ZEIT ‒ UMGEHEN MIT KOMPLEXITÄT

Landessynodenpräses Dr. Andreas Tietze

Mann mit Mikrophonen und Unterlagen an einem Tisch sitzend

Komplexität ist das Stichwort unserer Zeit, meistens mit negativem Unterton. Dabei ist die Karriere dieses Begriffs so alt wie die Neuzeit. Der Optimismus früherer Jahrzehnte, die Komplexität gesellschaftlicher Systeme und Prozesse in den Griff zu bekommen und zu steuern ist zwar verflogen. Das ist aber kein Grund zur Entmutigung, schon gar nicht in der Kirche.

Ein klassisches Beispiel für eine komplexe Situation: die Terminfindung. Meist steht sie am Ende einer langen Sitzung. Nicht immer haben alle ihren Terminkalender zur Hand. Oft genug entlastet man sich durch die Einigung, die weiteren Termine zu „doodlen“, also die Terminfindung über eine Anwendung im Internet zu steuern. Aber das verlagert das Problem mitunter nur.

Nebenbei: Wer sich, wie ich, in der Kirche ehrenamtlich engagiert, muss manchmal staunen, wie Termine gesetzt werden – da wird gerne einmal ein Treffen um 14 Uhr anberaumt. Das erfordert Planungen, der jeweilige Arbeitgeber muss gefragt werden und man kann nur hoffen, dass er ein Einsehen hat und dem Termin zustimmt.

Doch zurück zur Terminfindung: Komplexität wird erfahrbar beim gemeinsamen Durchgang durch den Terminkalender: „Da bin ich verhindert. An diesem Abend treffe ich mich mit einer alten Freundin. Dann bin ich beim Training. Sorry, Urlaub muss sein. Geht nicht, meine Fortbildung lasse ich nicht platzen.“

Angeführt werden Gründe, die irgendwie verfangen oder notgedrungen akzeptiert werden müssen. Sie machen deutlich, dass wir Menschen in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen leben, von denen sich Hauptamtliche nicht immer einen Begriff machen oder nicht machen können.

„Alles hat seine Zeit“,

sagt der Prediger in der Bibel. Und tatsächlich ist er ein Kronzeuge einer Kontingenzerfahrung, die der unsrigen nicht unähnlich ist. Nicht, dass wir alles grundsätzlich als eitel empfinden, aber möglicherweise gleich wertig verstehen. Auch Kirche muss sich einreihen in eine Prioritätenliste, in der sie möglicherweise nicht ganz so weit oben steht, wie sie es sich wünschen müsste.

Zumindest kann sie sich nicht, wie der Hausherr in dem Gleichnis vom großen Gastmahl (Lukas 14, 16-24), einfach Menschen von den Wegen und Zäunen holen, damit der Termin eingehalten werden kann. Abgesehen von der ultimativen Entscheidungssituation, die hier beschrieben wird, ist Kirche aufgegeben, jeden Menschen aufzusuchen, seine Lebensumstände zu berücksichtigen, Kompromisse zu machen und Bedingungen auszuhandeln, die eine gemeinsame Arbeit fördern.

Dass Termine dann am Ende doch in einer Zeit angesetzt werden, in der der größte Teil der berufstätigen Bevölkerung verhindert ist, kann nicht befriedigen.

Es ist, wenn man so will, eine Selektion, die das mühsame Verfahren einer Terminfindung vereinfacht durch einfache Setzung oder Durch-Setzung. Der Effekt: Die älteren Teilnehmer*innen vermissen zu Recht die jüngere Generation. Abgesehen davon, dass auch sie sich diesen Termin vermutlich freigeschaufelt haben.

Die Lösung kann es nicht geben, da es immer jemanden geben wird, der verhindert ist. Aber zumindest kann ein Zeitfenster vereinbart werden, in der die größte Zahl der Interessierten teilnehmen kann. Die Terminfindung ist ein relativ einfaches Beispiel.

So viele Sichtweisen

Wer sich aber in einem Gremium der Nordkirche ehrenamtlich engagiert und Zeit und Kraft investiert, steht bald vor noch komplexeren Situationen oder Lagen, die oft genug sein oder ihr Wissen oder Fachwissen übersteigen. Das wird dann problematisch, wenn weitreichende Entscheidungen, die nach bestem Wissen und Gewissen gefällt werden sollen, anstehen.

Steht der Termin aber endlich und kann es losgehen, wird die nächste Herausforderung deutlich: so viele Menschen, so viele Sichtweisen. So viele Sichtweisen, so viele Lösungsmöglichkeiten. Eine Einigung, sollte sie denn angestrebt werden, ist nicht in Sicht. Es sei denn, sie ist gefordert. Einigkeit, nicht um jeden Preis, aber mit der Aussicht auf einen möglichst breiten Konsens.

Wer in einem Gremium wie einem Ausschuss, einem Kirchengemeinderat oder der Landessynode arbeitet, weiß, wie mühsam manche Entscheidungen sind und wie sehr um eine Einigung gerungen werden muss.

Dabei kann nicht einmal die ganze Komplexität des Gegenstandes oder des Problems in einer Sitzung vermittelt werden. Sie muss im Vorfeld intensiv betrachtet, reflektiert und diskutiert werden. Sie braucht Kompetenz, die mitgebracht oder in entsprechenden Fortbildungsangeboten erworben ist. Die reine Stimmabgabe reicht zwar, aber sie sollte gut begründet sein.

Ein Hauptmerkmal von Komplexität ist die Unmöglichkeit, eine Situation oder einen Sachverhalt zu durchschauen. Intransparenz ist das Stichwort. Und auf diese Unüberschaubarkeit wird in der Regel mit Selektion, d. h. mit einer Auswahl, geantwortet, um der Vielzahl von Möglichkeiten Herr werden zu können.

Das ist in vielen Bereichen unseres Lebens von Vorteil, sonst würden wir nicht „zu Potte“ kommen. Sie erspart uns aber nicht, sofern wir uns auf demokratische Vorgehensweisen geeinigt haben, das oft mühevolle und unsere Geduld beanspruchende Aushandeln von Kompromissen.

Offensichtlich ist das besonders für diejenigen unserer Zeitgenoss*innen schwer zu ertragen, die aus ihrer subjektiven Wahrnehmung von Komplexität heraus nach einfachen Lösungen schreien. Die Wahrnehmung von Komplexität, bzw. der Undurchschaubarkeit einer Situation, wird bereits in der Bibel beschrieben.

„Aber wie schwer sind für mich, Gott, deine Gedanken! Wie ist ihre Summe so groß!
Wollte ich sie zählen, so wären sie mehr als der Sand: Am Ende bin ich noch immer bei dir. … Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz; prüfe mich und erkenne, wie ich's meine.“ (Psalm 139)

Vielleicht ist der Psalm gerade in unserer Zeit so beliebt, weil angesichts einer komplexen Situation, der Undurchschaubarkeit der Gedanken Gottes und der eigenen Motive, dieses Dilemma offen angesprochen wird, jenseits billiger Lösungen. Und zugleich an keiner Stelle die Beziehungsebene verlassen wird.

Auf die ehrenamtliche Arbeit bezogen bedeutet dies, dass Komplexität, wo sie sich ergibt, auch als solche angesprochen werden muss. Ihr angemessen zu begegnen heißt zudem, die notwendigen Entscheidungen nachvollziehbar zu formulieren.

Entscheidend ist also eine gute Kommunikationskultur. Diese Forderung ist so simpel und einleuchtend, wie sie in vielen Bereichen gerade ehrenamtlichen Engagements uneingelöst bleibt.

Natürlich ist es bequem, wenn einem manche Entscheidungen abgenommen werden. Und es ist sinnvoll, Menschen auszuwählen, denen man eine gewisse Entscheidungsfähigkeit zutraut. Nebenbei ist es für die gemeinschaftliche Vorbereitung eines Gemeindefestes unerheblich, ob alle den gleichen Kenntnisstand im Bereich der Kirchengesetzgebung besitzen.

Aber sofern wir uns in der Kirche als „Körper Jesu Christi“ (Eph 4, 15.16) verstehen, muss jeder und jedem die Chance gegeben werden, an allen Entscheidungen teilzuhaben.

Dr. Andreas Tietze
Präses der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland